Elektrikunterricht: Für den Laien vom Laien

Valentino Brasilero

Als ich in Brasilien, bei meiner Familie in Cotia angekommen war, da funktionierten drei Steckdosen und zwei Lichtschalter nicht. Der Vater der Familie, Pedro, seines Zeichens ambitionierter Handwerker mit eigener Konstruktionsfirma, Marke Eigenbau: Er selbst hatte nichts erlernt, zumindest nicht nach deutschem Standard. Keine Ausbildung, kein Studium. Nein, Diego entsieg den wirklichen Slums Brasiliens und brachte sich alles selbst bei, auf der Straße, mit hungrigem Magen.

 

Nun, Jahrzehnte später, nannte er eine Konstruktionsfirma sein Eigen. Er hatte sogar eine handvoll Angestellter. So ganz genau konnte man das allerdings nie wissen. Je nachdem, wann man ihn fragte, so hatte er auch eine unterschiedliche Anzahl an Mitarbeitern. Mal war es nur einer, mal waren es sogar sechs Leute. Ärger mit ihnen und der Bezahlung waren obligatorisch, so dass es immer mal wieder die ein oder andere Todesdrohung hagelte. Den Rest der Familie machte dies natürlich schwer zu schaffen: Sie jaulten, sie weinten, sie machten ein riesen Drama daraus. Diego selbst setzte dann immer sein verschmitztes Lächeln auf und amüsierte sich herzlichst über die Sorgen seiner Familie. Er konnte scheinbar sehr gut damit leben. Und nach all den Wochen, die ich bereits hier lebte, bekam ich auch allmählich ein Gefühl für die oftmals überhitzten Gemüter Brasiliens. Man war schnell mit den Worten und eben auch der Androhung drakonischer Maßnahmen, doch sehr langsam, was die Umsetzung versprochener Worte anbelangte. Oftmals wurden die ausgesprochenen Worte bereits mit dem aufgehen der nächsten Sonnenstrahlen wieder vergessen. So verhielt es sich auch mit all den Todesdrohung. So verhielt es sich mit jeder Ansage.

 

Diego hatte es jedenfalls versprochen: Mama Maria hatte förmlich darum gebettelt, Diego möge sich doch bitte um die Reparatur besagter kaputter Steckdosen und Lichtschalter kümmern. Und Diego hatte es zugesagt. Nun, zehn Wochen später war der Tag auch schon gekommen. Diego blieb zu Hause und kümmerte sich um Strom und Co.

 

Als ich an jenem Morgen aufwachte, müden Fußes durch das Wohnzimmer in die Küche schlappte, um mir meinen morgendlichen Kaffee zu brauen (nach dem überlebten Zuckerschock, übernahm ich die Zubereitung des Kaffees fortan selbst), da hingen etliche Kabel aus allen möglichen Öffnungen aus der Decke und den Wänden. Diego hatte sämtliche Lichtschalter und Strombüchsen abgeschraubt und nun hingen all die Kabel im Haus herum, wie Lianen um Dschungel. Diego selbst hing waghalsig auf einer Klappleiter und schraubte fluchend an den Kabeln herum. Scheinbar war ihm sein Leben nicht besonders viel wert.

Ich wartete also auf den Kaffee, gab Nina einen Snack, streichelte sie ein wenig, schenkte mir dann den Kaffee ein und ging zurück ins Wohnzimmer, um mich an den Esstisch zu setzen. Nun saß ich also vor dem Laptop, doch gab es keinen Strom, kein Internet, also auch keine morgendlichen Nachrichten. Nun fragen Sie sich vielleicht, wie ich dann den Kaffee hatte kochen können? Ganz einfach: Das funktioniert hier mittels des zwei-Topf-Systems auf der Gasherdplatte. Wasser im ersten Topf erhitzt und über den provisorisch gebastelten Kaffeefilter in den zweiten Topf herüber geträufelt. Kaffee fertig.

 

Mir war langweilig, obwohl es sehr spannend schien, Diego bei der Arbeit zu beäugen. Doch die Aufregung verschwand schon nach kurzer Zeit. Lissandra lag noch im Bett und schlief. Ich ging also zu Diego herüber und fragte, ob ich irgendwie helfen konnte. Schließlich hatte ich ja studiert, beide Semester.

 

So schraubten wir also zu zweit an all den losen und abenteuerlich verbundenen Kabeln herum. So manche Lichtquelle im Haus war lediglich eine einsam herunter hängende Glühbirne an den provisorisch herunter hängenden Kabeln.

 

Dann sah ich einen etwa zehn Zentimeter langen und giftgrünen Tausendfüßler über die Fliesen krabbeln. Viele wissen gar nicht, dass der Tausendfüßler oder Myriapoda, mitunter ein sehr giftiger Zeitgenosse sein kann. In vielen Ländern sind es nicht Spinnen, Skorpione oder Schlangen, vor denen Sie besondere Vorsicht walten lassen sollten. Nein, oftmals sind diese kleinen Krabbelmonster, die gerne durch Waschbecken ihre Runden drehen, eine viel gefährlichere Bedrohung. Niemals sollten Sie einen Tausendfüßler einfach so zerquetschen. Ich selbst nahm ein großes Blatt Papier, ließ den grünen Zeitgenossen darauf krabbeln, nahm dann das Blatt mit unserem giftigen Freund, ging zur Küchentür herüber und warf den Krabbler im hohen Bogen hinaus in den Hof.

 

Dabei hatte ich Nina völlig vergessen. Üblicherweise kam ich an diese Küchentür, um Nina mit kleinen Leckereien zu verwöhnen. Sie beobachtete mich aus ihrer eingerollten Schlummerstellung heraus, sah das Ungetüm auf sie zu kommen, sprang so schnell sie konnte auf ihre vier Pfoten und lief davon, so schnell sie nur konnte. Sie lief so schnell, dass sie sich beim Laufen zweimal purzelnd überschlug und letzten Endes Schutz in der Hütte fand. Skeptisch beobachtete sie das grüne Monster im Hof und starrte mich danach ungläubig an. Oh, Nina - das tut mir so leid, aber dieses Ungetüm war nicht als Leckerei für dich bestimmt. Trotz aller zuvor gewählten Bemühungen um die Gunst Ninas, seit jeher hatte unsere Beziehung einen empfindlichen Rückschlag, eine herbe Krise erlitten und wir mussten fast von vorne anfangen. An jenem Tage verließ sie ihre Hütte jedenfalls nicht mehr.

 

Ich kam gerade im richtigen Moment zurück zu Diego, sah, wie er peu à peu von der Leiter rutschte, rannte schnell zu ihm und konnte schlimmeres verhindern. Anschließend sollte ich mal eben kurz so ein korruptes Kabel festhalten, welches in seiner Blankheit eine gewisse Bedrohlichkeit versprach. Ich zögerte und fing an, mit Diego zu streiten. Eine völlig normale brasilianische Auseinandersetzung eben. Nichts Außergewöhnliches. Wir argumentierten, Diego behauptete, es wäre völlig gefahrlos, er hätte den Strom ja überall abgestellt, ich könnte ihm vertrauen. Gerade als ich auf ihn hören wollte, da fasste er an das Kabel, um mir auch noch den letzten Zweifel zu nehmen.

 

WWWWWWWWWWWWWWWWWW. Diego zitterte wie ein Aal und es roch nach verbranntem Fleisch. In meiner Verzweiflung stieß ich die Leiter schnell um, Diego fiel zu Boden, zitterte noch einen Moment lang weiter. Dann guckte er mir achselzuckend in die Augen, setzte wieder das Lächeln der Hyäne auf und arbeitete weiter. Für mich war der Einsatz an dieser Stelle erstmal beendet. Ich müsse mal nach Lissandra sehen, behauptete ich und verschwand, mich noch einmal bekreuzigend, wieder im Schlafzimmer und kuschelte mich an meine Freundin.

 

Am Abend hatte Diego dann wieder alle Kabel in den Wänden und der Decke versteckt. Er hatte seine Aufgabe erledigt: Die drei Steckdosen und zwei Lichtschalter funktionierten wieder - dafür gingen zwei andere Steckdosen und ein anderer Lichtschalter nicht mehr. Aber irgend etwas ist ja immer. Unglücklicherweise war es der Hauptlichtschalter in der Küche. Maria schimpfte mit ihrem Mann und er versprach, sich darum zu kümmern...

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