Chronologie einer kleinen Entführung

Valentino Brasilero

9:00 Uhr: Ich saß gerade am Laptop mit meinem Kaffee in der Hand und sah mir lachend die neusten Katzenvideos bei Youtube an. Plötzlich stand Lissandra neben mir. Ich konnte nur lachend auf den Bildschirm deuten. "Einfach zu gut," murmelte ich ihr entgegen. 

 

"Könntest du vielleicht kurz mit ins Zentrum fahren, um ein neues Smartphone zu kaufen?"

 

Ich zog eine Augenbraue nach oben. Sie hatte es als Frage formuliert, aber natürlich war es keine. Hier hatte sich der berühmte Wolf mal wieder im Wolfspelz getarnt. Unglücklicherweise hatte ich aber keine dringende Aufgabe zu erledigen und mit den eingeschalteten Katzenvideos hatte ich die mögliche Diskussion ja quasi schon von vornherein verloren. 

 

"Kurz," fragte ich vorsichtig nach. "Du meinst, wir lassen uns mit dem Helikopter ins Zentrum fliegen, seilen uns über dem entsprechenden Elektronikfachhandel ab, springen in den Laden, bezahlen das Handy und verschwinden wieder durch die Kanalisation, so dass wir in einer guten Stunde zurück sein können?"

 

"Rede keinen Unfug, aber wir müssen nur in diesen einen Laden und sind schnell zurück."

 

Ich hätte es mir schriftlich geben sollen, dachte aber nicht daran. Wir fuhren also los. Auf dem Weg aus der Comunidade kamen wir an einer Baustelle vorbei - irgend so ein Idiot hatte angefangen, mitten auf der Straße etwas zu bauen. ich fragte Lissandra noch, was der Bursche da trieb, aber sie wusste es auch nicht genau. Wir ließen uns einfach mal überraschen.

 

10:30 Uhr: Endlich hatten wir uns durch den dichten morgendlichen Berufsverkehr hindurch geschlängelt und kamen im Zentrum von Cotia an. Wir parkten den Fiat Uno direkt neben dem Elektronikfachhandel. Der Parkplatz war übrigens kostenlos - ein seltenes Vergnügen in Brasilien. Üblicherweise sucht man sich einen der sehr zahlreichen privaten Parkplätze und stellt das Fahrzeug dort unter Bewachung gegen eine kleine Gebühr ab. Macht man es nicht und stellt es einfach so irgendwo an die Straße, dann muss man mit allem rechnen. Und üblicherweise stehen dort auch immer ein paar Jungs, die trotzdem versuchen ein paar Reals zu ergaunern.

 

11:30 Uhr: Zumindest hatten wir die Auswahl des Telefons schon einmal auf das richtige Model eingeschränkt. Nun ging es um die Farbe. Gleich wären wir fertig, dachte ich leichtsinnig.

 

13:00 Uhr: Da wir - sie wissen, was ich mit wir meine - uns noch nicht ganz für die richtige Farbe entscheiden konnten, immerhin gab es drei zur Auswahl, entschieden wir, erst einmal einen kleinen Imbiss einzunehmen. Um die Ecke gab es Pastels - eine sehr leckere brasilianische Spezialität: angebratenes Mett mit Zwiebeln, Knoblauch, Schnittlauch und Käse in einer frittierten Teigtasche. Da staunt jeder Holländer. Ich war wieder guten Mutes und hatte neue Geduld aufgebaut. Die Auswahl der Farbe wurde auf zwei Möglichkeiten herunter gebrochen.

 

14:00 Uhr: Gut gestärkt standen wir wieder vor der Theke mit den Smartphones. "Weiß mit Gold ist aber auch schick..." Es waren wieder drei Möglichkeiten.

 

14:30 Uhr: Wir konnten uns doch noch für eine Farbe entscheiden: Weiß mit Pink. Nun standen wir am Computer und die nette Frau tippte die Daten in den Computer. Ich schlich mich zu den Laptops rüber.

 

15:00 Uhr: Lissandra tauchte neben mir auf, als ich gerade einen Spitzenpreis für das neueste Model heraus gehandelt hatte. Doch mit dem unqualifizierten Kommentar "Ich hätte bereits drei Laptops" würgte Lissandra die Diskussion einfach so ab. Zu 25 Prozent hatte sie vermutlich Recht. "Hast du denn das Handy?" fragte ich.

 

"Nein, wir müssen nur noch zur Kasse gehen und bezahlen."

 

"Und was hast du da gerade getan?"

 

"Ah, nur die Daten eingeben. Natürlich wollten die mir noch eine Versicherung andrehen, aber ich habe nein gesagt."

 

15:45 Uhr: Nun hatten wir das Smartphone endlich bezahlt, bekamen die Ware aber noch nicht an der Kasse heraus. Wieder wollte man uns eine Versicherung unterjubeln. Selbstverständlich mussten wir noch bis ganz nach oben in den vierten Stock, um uns das Gerät direkt aus dem Safe aushändigen zu lassen.

16:15 Uhr: Der Verkäufer erklärte uns gerade die Vorteile einer Versicherung gegen Diebstahl oder Herunterfallen. Wow, so etwas hatten wir noch nie zuvor gehört, dankend lehnten wir dennoch ab und ließen uns die teure digitale Schwester in pink und weiß aushändigen. Ich konnte den süßen Duft der Freiheit wieder riechen. Doch plötzlich brauchten wir noch eine neue Simkarte - die alte würde nicht mehr passen, weil Lissandra falsch beraten worden wäre.

 

17:00 Uhr: Endlich standen wir vor dem Extra Supermarkt - hier gab es natürlich wesentlich bessere Angebote, was die Handyverträge anging, ließ ich mich belehren. Wenn ich mir jetzt einen Vollbart wachsen ließe, überlegte ich, während ich über mein glatt rasiertes Kinn strich, dann wäre der bestimmt noch vor dem erfolgreichen Abschluss unserer Einkaufstour fertig.

 

18:00 Uhr: Als wir dann wieder zum Auto zurückkehrten, die neue Simkarte hatten wir gekauft, hatte ich schon für einen kurzen Moment die Hoffnung geschöpft, wir könnten nun zurück nach Hause fahren.

 

19:00 Uhr: Nachdem wir dreimal um die Innenstadt herum kreisten, um vor der günstigsten Apotheke der Stadt einen der beiden heiß begehrten Parkplätze zu ergattern, hatten wir endlich Glück. Gekonnt lenkte Lissandra den Fiat in die Mülltonnen vor dem Geschäft. Sie fielen um und entleerten sich zur Freude der Beobachter. Schnell kauften wir die Medikamente und stiegen auch schon wieder ins zerbeulte Vehikel. "Zahlt so etwas bei euch die Versicherung?" fragte ich Lissandra neugierig.

 

"Wir haben gar keine Versicherung, aber meine Mutter betet jeden Tag!"

 

Ich nickte. Das war quasi genau so wertvoll. Ein Mann kam zur Hilfe und versuchte ein paar Reals aus der Situation heraus zu schneiden. Lissandra und er diskutierten heißblütig. Als er verstand, dass Lissandra keine Hilfe benötigte, wechselte er die Tonart zu einer wüsten Beschimpfungsorgie. Auch hier hatten die Machos noch die Oberhand - einem Mann würden sie niemals benötigte Hilfe unterstellen, einer Frau trauten sie in puncto Autofahren gar nichts zu. Lissandra lenkte den Fiat überraschend gekonnt zurück auf die Straße. Nun ging es auch schon wieder zurück. Als wir an der Baustelle des Morgens wieder vorbei fuhren, mussten wir arg aufpassen, nicht in sie hinein zu rauschen. Die Straße als Fundament, hatte dieser Idiot sein Haus einfach mitten in den Weg gebaut und nun konnte man diesen Bunker nicht einfach mehr weg schieben, ohne die Straße gleich mit zu beschädigen. Esperto. So ging es üblicherweise zu in der Comunidade: Man baute, wo es einem beliebte.

 

21:00 Uhr: Völlig erschöpft fiel ich in mein Bett. Jetzt konnte mich nur noch ein kühles Bier wieder retten, doch zu meinem großen Entsetzen hatte Maria meine kompletten Bierreserven im Ausguss versenkt. Wir könnten ja noch einmal kurz in den Supermarkt fahren, schlug Lissandra vor...

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