Die Ameise und die Zikade

Valentino Brasilero

Eine brasilianische Fabel

Wir spazierten ein wenig durch unsere Wohngegend. Lissandra erklärte mir wer wo wohnen würden. Freundlich grüßten wir Luíz, der gerade zwei große Müllsäcke in seinem Dodge verstaut hatte. Er hob nur den Zeigefinger und wir gingen weiter. 

 

"Und hier wohnt diese deutsche Auswanderin - sie wohnt nun fast 30 Jahre in Cotia und züchtet ihre etwa 300 Huskys." erklärte mir Lissandra.

 

"Huskys in der brütenden brasilianischen Hitze? Das ist ja die reinste Tierquälerei für die armen Schneehunde! Zumindest erklärt es das nächtliche Wolfsgejaule, das mich pünktlich um 3 Uhr weckt."

 

"Und hier wohnt dieser Engländer seit 40 Jahren mit seiner brasilianischen Frau. Er spricht kein Wort portugiesisch und war seitdem er hier ist nie wieder in England! Findest du es nicht auch etwas komisch?"

 

"Engländer finde ich immer ein bisschen komisch! Jeder, der einen Kuchen als Hauptspeise serviert kann ja nicht ganz rund laufen."

 

"Nein, Schatzi, ich meine weil er seit 40 Jahren nie wieder zurück in seine Heimat gereist ist. Nicht einmal zu Weihnachten, um seine Familie zu besuchen und er hat auch niemals Besuch aus England bekommen! Und er verlässt fast niemals sein Grundstück - er hat hier auch noch nie gearbeitet. Wovon lebt er nur?"

 

"Na, ein Engländer reicht hier ja nun auch! Denen gehört ja quasi eh schon die ganze Welt. Vielleicht sollten wir Luíz mal auf ihn ansetzen. Er könnte dir ja etwas geklaut haben," schlug ich vor. "Der wird bestimmt ohnehin von Interpol gesucht. Vermutlich hat der damals eine Bank ausgeraubt und lebt hier nun von seinem Raubzug oder so etwas in der Art. Vielleicht ist seine Familie aber auch früh verstorben, er hat viel geerbt und lässt es sich hier gut gehen. Wer weiß das schon? Wie dem auch sei, Luíz wird das schon aus ihm heraus bekommen. Da bin ich ganz sicher."

 

"Hörst du dieses Geräusch?" fragte mich meine hübsche Freundin.

 

"Ah, du meinst diese Grille?"

 

"Nein, es ist keine Grille. Wir nennen es Cigarra und wenn sie so singt wie heute, dann kündigt es einen sehr heißen Tag an."

 

"Noch heißer als heute?" fragte ich verwirrt. "Wie heiß wird es denn hier noch? Ich fühle mich jetzt schon wie einer dieser armen Huskys! Man nennt mich nicht aus Spaß White Walker!"

 

"Kennst du diese Fabel mit der Ameise und der Cigarra? Ich glaube es ist eine Zikade."

 

"Ist das nicht ein Baum? Nein, ich kenne sie nicht."

 

"Nein, kein Baum - ein Insekt. Und in der Fabel singt und spielt sie den ganzen Sommer über und unterhält die Ameisen. Die Ameisen hingegen sind sehr fleißig und arbeiten den ganzen Tag und die ganze Nacht und sammeln Nahrung für den Winter und bauen sich ihr Haus, aber die Zikade macht nur ihre Musik. Die Ameisen arbeiten sehr gut im Rhythmus dieser Musik. Dann kommt der Winter..."

 

"Winter is coming," fiel ich ihr ins Wort. "Bald kommt endlich die neue Staffel! Ich freue mich schon so."

 

"Ich erzähle dir gerade etwas Schatzi! Du bist sehr unhöflich!"

 

"Entschuldige Schatzi, aber ich muss doch hin und wieder meinem Ruf als Deutscher gerecht werden. Erzähl bitte weiter."

 

"Also dann kommt der Winter und es wird sehr kalt und nirgends gibt es noch etwas zu essen zu finden. Die Zikade friert und ist hungrig, sie geht in ihrer Verzweiflung zu den Ameisen und klopft an ihre Tür. Sie fragt die Ameisen, ob sie nicht bei ihnen bleiben könnte und auch etwas zu essen bekommen könnte. Die Ameisen weisen sie aber ab, sie behaupten sie hätten weder genug Platz noch genug Nahrung für die Zikade und sie hätte im Sommer wohl besser auch fleißig gearbeitet, so wie sie selbst es getan haben. Traurig geht die Zikade wieder fort und stirbt vor Kälte und Hunger."

 

"Ohhhh," ich nickte und guckte Lissandra erwartungsvoll in ihre schönen Augen. Sie sagte aber nichts. "Und wie geht es dann weiter? fragte ich schließlich.

 

"Es geht nicht weiter. Das ist das Ende der Fabel!"

 

"Na, das ist aber kein besonders schönes Ende, das ist ja voll traurig!" erwiderte ich.

 

"Wie soll es denn auch weiter gehen? Es ist eine brasilianische Geschichte, Schatzi, wir sind diese Ameisen, wir sollen nur arbeiten so viel wir können und das wird uns mit dieser Fabel gesagt. Verstehst du?"

 

"Ja, schon. Trotzdem viel zu traurig für meinen Geschmack. Man sollte das Ende noch ein wenig ausschmücken, damit es auch eine realistische Geschichte wird!"

 

"Und wie?"

 

"Als der Winter dann endlich vorbei war und die Ameisen wieder aus ihrem Haus heraus kamen, da bemerkten sie irgendwann dieses bedrückende Gefühl der Arbeit. Plötzlich fiel ihnen auf, dass sie im letzten Jahr wesentlich effektiver und fröhlicher gearbeitet hatten, als ihnen diese eine Zigarre..."

 

"Cigarra! Es ist eine Zikade Schatzi. Ihr Deutschen denkt immer nur ans Rauchen!"

 

"Ok, diese eine Zikade. Als ihnen diese eine Zikade immer wieder diese wunderbare Unterhaltung geboten hatte. Nun erkannten sie den Wert der Zikade und ihnen fiel auf, dass auch sie ihren Beitrag zum Ganzen geleistet hatte. Nur eben einen anderen Beitrag. Die Ameisen fühlten sich schlecht und schuldig, nun waren sie sehr traurig. In ihrer Traurigkeit bauten sie zunächst ein Denkmal für die verstorbene Zikade und unterhielten tagelang eine Trauerzeremonie. Da kam plötzlich, angelockt von der Trauerfeier, eine andere Zikade vorbei. Sie hatte den Winter in milderen Gefilden überstanden. Als diese neue Zikade fragte, was die Ameisen da lustiges machen würden, erklärten sie ihr die ganze Situation. Die Ameisen fragten die Zikade dann, ob sie nicht bei ihnen bleiben möge, um für sie zu singen und zu spielen. Die Ameisen würden sich im Gegenzug um Nahrung und Obdach für die Zikade kümmern. Die Zikade zeigte sich einverstanden und ein neues Bündnis wurde geschmiedet. Als dann der Winter kam und die Ameisen nicht viel zu tun hatten, da bemerkten sie dann sogar, dass nun, in der Kälte die Unterhaltung der Zikade noch einen zusätzlichen Wert hatte. Im folgenden Sommer nahmen sie noch weitere Zikaden in ihr Königreich auf. Nie wieder sollte das Bündnis zwischen Ameisen und Zikaden zerrüttet werden und heute ist das Königreich der beiden Ungleichen das größte und prächtigste ganz Brasiliens. Von weit her kommen die Tiere zu ihnen gereist und fragen neugierig nach dem Rezept ihres Erfolges. Ende."

 

"Ja, dieses Ende mag ich sehr. Ihr Deutschen könnt so gut Geschichten erzählen. Wie dieser Bruder Grimm oder Goethe..." 

 

"Konnten, Liebling. Wir Deutschen konnten so gut Geschichten erzählen. Heute sind wir auch mehr wie diese Ameisen."

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