Carne Louca - Verrücktes Fleisch

Valentino Brasilero

Wie schnell die Zeit vergeht, merkt man erst, wenn einem die Tage besonders gut gefallen. Zwei Monate Aufenthalt in Brasilien kamen mir vor, wie ein verlängertes Sommerwochenende am See. 

 

Allmählich bemerkte ich, das meine körpereigenen Eiweißreserven zur Neige gingen. Lissandras Mutter war in den letzten Tagen schier begeistert, welche Mengen Eier ich morgens zum Frühstück essen konnte. Heute morgen waren es zehn Stück! Was für ein Mann, sagte die Mutter. Was für ein Cholesterinspiegel, dachte ich. Scheinbar bemerkte sie die verdeckten Hintergründe nicht, jedenfalls noch nicht. Ihre Tage begannen schon sehr früh, so dass sie ebenfalls sehr früh abends in der Falle verschwunden war. Trotz all der Eier, mergelte mein Körper zunehmend aus, was an den Abenden und vor allem den langen und heißen Nächten lag. Doch davon ahnte Lissandras Mutter zu unserem großen Glück nichts. Dies sollte sich jedoch schon sehr bald ändern!

 

Es war ein Tag wie viele andere auch. Für den Geschmack der Familie schliefen wir zu lange, frühstückten zu spät und fuhren dann zur Universität, der USP, nach Sao Paulo. Dies ist nebenbei bemerkt auch die größte Universität in Südamerika. Sao Paulo bleibt Stadt der Superlative.

 

Wir quälten uns die knapp 40 Kilometer über die viel zu vollen Straßen in die Innenstadt, verbrachten einige Stunden an der Uni und fuhren den Weg dann wieder zurück. Allein für die kumulierte Hin- und Rückfahrt benötigten wir täglich zwischen drei und fünf Stunden. Der Wahnsinn. Zum Glück besaß Lissandra mit dem kleinen Fiat Uno ein autoähnliches Fahrzeug. Sie erzählte mir, am Anfang ihrer Studienzeit hätte sie diese Strecke nahezu jeden Tag mit dem Bus fahren müssen! Zweimal umsteigen, sechs bis acht Stunden im Bus, jeden Tag, dazu noch eine dreiviertel Stunde zum oder vom Bus aus laufen. Insgesamt war sie quasi den ganzen Tag unterwegs, um eine einzige Vorlesung in der Uni zu besuchen. Mehr hätte sie gar nicht geschafft, sagte sie mir ein wenig verlegen. So viel hätte ich niemals geschafft, dachte ich nur. Was sind wir doch für kleine verwöhnte Scheißer in Europa. Haben alles und wollen immer mehr. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Die Eltern nahmen jeweils einen Zweitjob beziehungsweise Drittjob an, um ihrer ältesten Tochter ein Auto kaufen zu können. Drei Jahre lang hatte Lissandra tapfer den Strapazen im Bus getrotzt. Nach dem Schulabschluss hatte sie einen Eignungstest an der USP gemacht und bestanden. Ein großer Erfolg - so hatte sie überhaupt erst die Möglichkeit, zu studieren, erhalten. Im vierten Jahr an der Uni erhielt sie dann also das Auto. Nun wurde für sie vieles sehr viel einfacher.

Auf dem Rückweg von der Uni am Abend blieben wir dann oft am Supermarkt stehen und besorgten noch ein paar Lebensmittel. Zu Hause angekommen, erwartete uns dann auch schon die Familie am Esstisch mit dem üppigen Abendessen. Am Abend der Offenbarung gab es dann eine Spezialität des Bundeslandes: Carne louca - verrücktes Fleisch.

 

Hierzu nehme man eine ordentliche Portion Rindfleisch, ein Bataillon Tomaten, Zwiebeln, Unmengen an Knoblauchzehen - einmal halbiert, eine Prise Salz und eine Handvoll grüne Sträucher von der Straße - was eben so in der Nähe wächst. Nun lässt man alles zusammen den halben Nachmittag über im großen, verbeulten Kochtopf vor sich hin brutzeln. Kurz vor dem Finish dann schnell die Handgranate in den Topf geworfen, Deckel drauf, schnell in Deckung gegangen, Zündung, fertig: Zerbombtes Gulasch à la Brasil.

 

Dann saßen wir alle am Esstisch, der große Kochtopf in der Mitte, ein pappiges weißes Brötchen auf unserem Teller. Das Brötchen wurde schnell ein wenig ausgehöhlt und das Carne louca in den Hohlraum eingeschenkt. Wahnsinnig lecker, aber verflucht und eins eine unglaublich süffige Auseinandersetzung. Anschließende Dusche nicht ausgeschlossen! 

 

Und gerade als ich so lässig in den zweiten feuchten Bruder hinein biss und mein drittes T-Shirt an jenem Abend einsaute, passierte es mal wieder: Gol da Alemanha

 

Es war stockdunkel und es sollte auch an jenem Abend nicht mehr heller werden. Nun könnte man meinen, bei all diesen Stromausfällen wären die Menschen ein wenig auf ein solches Abenteuer vorbereitet: Die Kerzen griffbereit, eine Taschenlampe in der Kommode oder zumindest ein Feuerzeug in der Hose. Fehlanzeige. 

 

Brasilien, ein Land der Spontanität. Unvorbereitet lässt man sich auf das Leben ein. Ohne Rückgaberecht, versteht sich.

 

Wir machten das Beste aus dem dunklen Abend und verschwanden schon sehr früh im Schlafzimmer. Zu früh, wie sich später zeigen sollte. Dieses eine Mal sollten wir nämlich nicht unbemerkt bleiben. In der stillen, stromlosen Dunkelheit blieben unsere bettaktiven Geräusche nicht länger unentdeckt. Wir waren aufgeflogen und dies sollte schwerwiegende Folgen haben...

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