Valentino Brasilero
"Ist das Leben denn wirklich besser in Brasilien?" hörte ich die zittrige Stimme meiner nun 89 jährigen Großmutter am Telefon.
"Omi, so etwas würde ich niemals sagen. Ich meine, es wäre mir viel zu pauschal dieses "besser in Deutschland" oder eben "besser in Brasilien". Natürlich gibt es Dinge, die in Deutschland viel besser sind und ebenso gibt es auch Dinge, die in Brasilien viel besser sind. Es ist auf jeden Fall wesentlich aufregender und abenteuerlicher hier in Brasilien." erzählte ich meiner Oma und dachte dabei an die beiden Autos, die seit einem halben Tag unser Tor des Hauses blockierten. Hier ist übrigens in Cotia, dem Bundesstaat Sao Paulo und etwa 30 Kilometer von der größten Stadt Südamerikas entfernt. Hier ist übrigens eine Favela, oder Comunidade, wie es seit jüngster Zeit heißt. Comunidade heißt es aus dem Grund, da Favela mittlerweile politisch inkorrekt ist, da es zu diskriminierend war. Jeder assoziiert mit Favela gleich eines dieser umkämpften Slums in Rio.
"Also Comunidade ist erstmal neutral und man weiß noch nicht, ob es eine reiche oder arme Wohngegend ist?" fragte ich Lissandra, meine brasilianische Freundin.
"Nein," antwortete mir diese sogleich. "Jeder weiß, dass Comunidade nur eine Wohngegend für die Armen ist."
"Hum," entgegnete ich. "Aber dann ändert das neue Wort doch nichts an der Diskriminierung. In ein paar Jahren wird die Bedeutung des Wortes Comunidade dann genau so verbrannt sein, wie jetzt Favela."
"Genau, dann wird es wieder ein neues Wort geben."
Als die Eltern von Lissandra vor vielen Jahren hier her gezogen waren, da war diese Wohngegend noch keine Comunidade. Es war eine gute Wohngegend. Die Eltern hatten das Haus gekauft und nach brasilianischen Maßstäben modern umgebaut. Dann zogen plötzlich immer mehr Menschen in diese Gegend, ohne ein entsprechendes Grundstück gekauft zu haben. Sie bauten ihre Häuser einfach dort hin, wo es ihnen passte. Und genau das war einmal die ursprüngliche Bedeutung einer Favela - Häuser, die ohne Genehmigung, ohne gekauftes Grundstück einfach in den Himmel gebaut wurden. Immer mehr Leute kamen und viele wohlhabendere Menschen zogen wieder weiter. Lissandras Vater baute eine Mauer um das Grundstück, als die Leute anfingen, auch die Ränder seines Grundstücks zu bebauen. Als die Mauer dann stand, verbauten sie auch die Mauer, also baute der Vater noch eine neue Mauer mit Stacheldraht. Eine Mauer für die Mauer, oder ein zweiter Burggraben, wenn man so möchte. Und wenn man nicht über diese beiden Mauern klettern und sich die Ärmel am Stacheldraht aufreißen möchte, so muss man durch das elektrische Eingangstor auf das Grundstück kommen. Und genau dieses Tor wurde nun von den beiden Autos mit den getönten Scheiben blockiert.
Unser Nachbar hatte vor ein paar Stunden angerufen und uns auf dieses "Problem" hingewiesen. Ich setze das Wort Problem bewusst in Anführungszeichen, da es einerseits für mich ein großes Problem darstellt - immerhin können wir momentan nicht das Grundstück verlassen, immerhin wissen wir nicht, was es damit auf sich hat - andererseits sieht meine Frau es nicht als Problem, da so etwas alltäglich passiert. Es kann alles oder auch gar nichts bedeuten. Vielleicht warten sie nur vor dem Tor im Schatten, vielleicht handeln sie mit Drogen, vielleicht haben sie eine Autopanne, oder vielleicht wollen sie Lissandras Vater töten, weil er ihnen Geld schuldet, oder gar Lissandra entführen, oder uns berauben. Wer weiß das schon? Es kann alles passieren, oder eben nichts. Wie ich schon meiner Oma am Telefon sagte - das Leben ist aufregender hier in Brasilien. Man weiß nie, was der Tag bringt. So manch Deutscher wird damit nicht umgehen können, sie oder er braucht diese Beständigkeit, diese Sicherheit, muss genau wissen wann das Regenwasser wohin fließt und wo es sich sammelt.
In Brasilien weiß man das nicht, man will es gar nicht wissen. Hier steht man morgens auf und guckt, was der Tag an Überraschungen für einen bereit hält. Falls diese Typen aus ihren Autos steigen und auf den Hof kommen, so haben wir immerhin noch unseren Wachhund Nina. Gut, diese Promenadenmischung ist zwar kein Kampfhund, aber immer noch besser als gar kein Hund. Auf den zweiten Gedanken allerdings, ist sie jedoch eigentlich nur so richtig aktiv, wenn sie etwas zu fressen wittert.
Lissandra macht den Abwasch und hängt dann die Wäsche im Hof auf, ganz so, als wäre nichts passiert, während ich um das Tor herumschleiche und durch die winzigen Ritzen im Blech immer wieder nach draußen spähe. Das mache ich alle fünf Minuten, nur um zu gucken, ob sich draußen auf der Straße bei den beiden Autos etwas getan hat. Nina beobachtet mich interessiert dabei, aus dem kühlen Schatten, bewegungslos. So ganz brasilianisch bin ich dann doch noch nicht, aber wie sagt man so schön? Gut Ding braucht Weile...
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